Das Wunder der Perle:
In einer korallenreichen Bucht mit einem herrlichen Sandstrand liegt eine Muschel am Meeresgrund. Kristallklares Wasser strömt über sie
hinweg. Jeden Tag sieht sie, wie die Wellen sich brechen und das Licht der Sonne sich im Glanz des Wassers spiegelt. Oft schaut die Muschel nach oben. Sie ist dankbar für ihre schöne Heimat und
genießt ihr unbeschwertes Leben. So vergeht eine lange Zeit.
Doch eines Tages ist alles anders. So dunkel war es am helllichten Tag schon lange nicht mehr und die Wellen waren noch nie so hoch wie heute. Der ganze Meeresboden wird aufgewühlt. Um sie herum ist
alles in Bewegung. Die Muschel bekommt es mit der Angst zu tun und verschließt sich so fest wie möglich - doch trotz ihrer Bemühungen dringt ein grobes, scharfes Sandkorn in sie ein. Sofort spürt sie
die Verletzung. Sie versucht, dieses Sandkorn schnell wieder loszuwerden – es irgendwie vom Meerwasser herausspülen zu lassen. Doch es gelingt nicht. Das Sandkorn ist in die Muschel
eingedrungen.
Am nächsten Tag scheint die Sonne wieder und das Meer rauscht und glitzert wie all die Tage und Jahre zuvor - die Muschel aber nimmt das alles nicht mehr wahr. Sie empfindet nur noch ihren Schmerz.
Sie spürt ein unerträgliches Reiben und Scheuern, fühlt sich machtlos und ausgeliefert. Voller Verzweiflung klagt sie Gott an: Warum geschieht das gerade mir? Wieso hast du das zugelassen? Wie lange
kann ich diesen stechenden Schmerz noch aushalten? Die Muschel steigert sich in ihre Anklage hinein. Sie ahnt, dass sie an ihrer Situation nichts, aber auch gar nichts ändern kann. Doch das zu
akzeptieren fällt ihr unendlich schwer. Qualvolle Minuten, Stunden und Tage vergehen.
Allmählich sieht die Muschel ein, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie muss mit der Tatsache leben: Das Sandkorn hat sich in ihrem Innern festgesetzt. Doch langsam, ganz langsam bemerkt sie eine
Veränderung. Das Scheuern ist zwar immer noch da – auch dieses ungute Gefühl der Hilflosigkeit –, aber der starke, stechende Schmerz lässt im Laufe der Zeit spürbar nach.
Als sie dennoch wieder einmal verzweifelt am Meeresgrund liegt und bitterlich weint, sieht sie plötzlich eine alte, weise Auster neben sich. Liebevoll schaut die Auster sie an und spricht: „Mein
Kind, du kannst das jetzt nicht verstehen und du wirst es mir vielleicht auch nicht glauben, aber eines Tages wirst du – wegen deines ungeliebten Sandkorns – etwas Wunderbares aus dir hervorbringen.“
Gerade wollte die Muschel fragen, wie die Auster das meint, da ist die Auster schon weitergespült worden. Und so fragt sie sich, wer ihr die rätselhaften Worte erklären kann. Soll am Ende das, was
ihr widerfahren ist, für etwas gut sein? Tief in ihrem Herzen glaubt sie an die Prophezeiung der alten, weisen Auster: „Eines Tages wirst du – wegen deines ungeliebten Sandkorns – etwas Wunderbares
aus dir hervorbringen.“ Jeden Tag wiederholt die Muschel diese Worte.
Drei Monate später nimmt sie zum ersten Mal wieder wahr, wie schön sich das Licht der Sonne in den Wellen bricht und am Meeresgrund glitzert. Wie früher staunt sie über das faszinierende Farbenspiel
der Korallen um sie herum.
Und eines Tages sieht sie die alte, weise Auster plötzlich wieder. Wie gerne würde unsere Muschel mit ihr reden, doch die Entfernung zwischen ihnen ist einfach zu groß! Aber die Auster lächelt ihr zu
und das gibt der Muschel Mut. Sie erinnert sich an den liebevollen Zuspruch der Auster und denkt: ‚Eines Tages werde ich – wegen meines ungeliebten Sandkorns – etwas Wunderbares aus mir
hervorbringen.’ Immer, wenn sie diese Worte wiederholt, spürt sie ein tiefes, intensives Gefühl der Liebe und Wärme in sich. Sie fühlt sich durchflutet von einer wunderbaren Macht.
Ein Jahr ist vergangen. Wie jeden Tag liegt unsere Muschel am Meeresgrund. Sie öffnet und schließt sich. Dabei tastet sie das Sandkorn ab, das seine Schärfe inzwischen verloren hat. Sie spürt, dass
es auf unfassbare Weise, wie durch ein Wunder, in ihrem Innern ummantelt wurde und nun in ihr wächst.
Manchmal erinnert sie sich noch an den heftigen Schmerz und ihr kommen die Tränen. Doch inzwischen hat sie ein Ja gefunden zu allem, was geschehen ist. Sie akzeptiert nun ihr Schicksal und ist
dankbar dafür, wie gut es ihr wieder geht. Und wieder fallen ihr die Worte der alten, weisen Auster ein.
Im Laufe der nächsten Jahre ist aus dem Kügelchen in ihr eine kleine runde Kugel geworden. Unsere Muschel freut sich darüber, andererseits hat sie zunehmend den Eindruck, dass dieses perlmuttfarbene
Wunder in ihr mit der Zeit bedenklich groß wird. Sie macht sich Sorgen darüber, wo das alles noch hinführen soll und wie es mit ihr weitergeht. Sie fürchtet sogar, daran zu sterben, wenn sie diese
Kugel nicht irgendwann loswerden kann.
Eines Morgens, als sich die Muschel gerade wieder öffnet, sieht sie die alte, weise Auster ganz nahe bei sich – so nahe, dass sie sich unterhalten können. Die Auster fragt: „Weißt du nun, was ich
damals gemeint habe?“ Unsere Muschel ist irritiert, denn sie ahnt noch immer nicht, was nun bald geschehen wird. „Du meinst diese perlmuttfarbene Kugel in mir, nicht wahr?“ Die Auster nickt und
deutet auf wunderschöne, im Sonnenlicht glitzernde Perlen, die in ihrer Nähe liegen.
Zum ersten Mal begreift die Muschel das Wunder der Perle. Sie versteht, dass es also auch andere Muscheln gegeben hat, die diesen Schmerz aushalten mussten – und die dann eines Tages so eine
wunderschöne Perle hervorgebracht haben. Sie fängt an, sich zu freuen. Sie dreht sich, öffnet und schließt sich, sie jubelt und singt.
Als sie die Freudentränen in den Augen der alten, weisen Auster bemerkt, ist es dann so weit: Die perlmuttfarbene Kugel in unserer Muschel löst sich. Ihre Perle wird geboren und glitzert neben ihr im
Sonnenlicht. Die Muschel lacht und weint vor Freude. Sie schaut sich die wunderschöne Perle genau an. In ihrem Innern fühlt sie wieder die Freiheit, die sie aus fast vergessenen Tagen kannte.
Eines Abends jedoch kann sie ihre Perle nicht mehr finden - sie ist spurlos verschwunden. Und auch die anderen Perlen in ihrer Umgebung, an denen sie sich so oft erfreut hat, sind plötzlich nicht
mehr da.
Die alte, weise Auster bemerkt ihre Traurigkeit und fängt an, sie zu trösten: „Du musst wissen, einmal im Jahr kommt der Juwelier dieser Gegend mit seinen Tauchern in unsere Bucht. Sie gehen auf
Perlensuche. Diese Männer waren heute hier und haben die Perlen eingesammelt.“ Dann erzählt die Auster weiter: „Als sie deine Perle sahen, sind alle Taucher zusammengekommen und haben über das
besonders schöne Exemplar gestaunt, das du geboren hast. Ich konnte hören, wie der Juwelier sagte: ‚So eine wunderschöne Perle suche ich schon lange. Ich werde sie als Schmuckstein für den goldenen
Kelch der Liebe verwenden, der künftig den Altarraum unserer Kirche schmücken wird. Und viele Menschen werden Trost, Hoffnung und Freude empfinden, wenn sie dieses Wunder der Schöpfung sehen.’
Als sich das Licht in den Freudentränen unserer Muschel bricht, fügt die alte, weise Auster hinzu: „Deine wunderschöne Perle wird unser beider Leben weit überdauern.“